Neue empirische Forschung liefert Erkenntnisse über die menschliche Selbstwahrnehmung beim gesunden Altern
Die Selbstwahrnehmung ist ein zentraler Bestandteil der menschlichen Erfahrung – und möglicherweise weitaus wandelbarer als bisher angenommen. In einer Reihe neuer Studien untersuchte der interdisziplinäre Forscher Dr. Amir Jahanian-Najafabadi von der Constructor University gemeinsam mit Forscher:innen der Universität Bremen und der Universität Bielefeld, wie Menschen Werkzeuge und Gegenstände wahrnehmen und mit ihnen interagieren – und wie diese Interaktion unser Verständnis vom eigenen Körper im Raum und in der Zeit verändert. Ihre Ergebnisse zeigen: Der langfristige Gebrauch von Gegenständen – von Dingen, die wir alltäglich benutzen bis hin zum Sportgerät wie einem Golfschläger – kann das Körperschema (das innere Bild von Form und Größe des eigenen Körpers), das Gefühl der Besitzzugehörigkeit (ownership), die Kontrolle über den eigenen Körper (agency) und sogar die Wahrnehmung von Raum und Zeit verändern. Die Forschung liefert damit wertvolle Einblicke in die kognitiven und neuronalen Mechanismen, die unserer Selbstwahrnehmung zugrunde liegen.
Werkzeuge sind ein integraler Bestandteil des menschlichen Lebens. Sie erweitern unsere sensomotorischen Fähigkeiten und ermöglichen uns eine intensivere Interaktion mit der Umwelt. Bereits vor Jahrzehnten stellten Forschende die These auf, dass Werkzeuge in die dynamische neuronale Repräsentation des Körpers integriert werden können – eine Ausdehnung der eigenen Reichweite und räumlichen Wahrnehmung also. Dieses Phänomen ist unter dem Begriff „Tool Embodiment“ bekannt und wird heute vielfach wissenschaftlich gestützt: Werkzeuggebrauch verändert die Körperrepräsentation im Gehirn und beeinflusst, wie wir Raum wahrnehmen. Außerdem steht er in Zusammenhang mit Veränderungen in den sensomotorischen Repräsentationen, wodurch sich je nach Interaktionsraum unser Ownership- und Agency-Erleben verändert.
Gemeinsam mit Prof. Dr. Ben Godde von der Constructor University, Dr. Dennis Küster und Dr. Felix Putze von der Universität Bremen sowie Prof. Dr. Christoph Kayser von der Universität Bielefeld führte Dr. Jahanian-Najafabadi eine Reihe von Studien durch – sowohl in realen als auch in virtuellen Umgebungen. Mithilfe visueller und haptischer Rückmeldungen untersuchten sie, wie der Einsatz von Werkzeugen die sensomotorische Repräsentation beeinflusst. Die Ergebnisse liefern neue Erkenntnisse darüber, wie die Erfahrung mit Werkzeugen unsere Wahrnehmung von Raum, Zeit und Körperbesitz verändert – und wie diese Veränderungen durch neuronale und verhaltensbezogene Prozesse gesteuert werden.
Die Studien mit jüngeren und älteren Erwachsenen verdeutlichen, wie tief das Tool Embodiment mit der Raum- und Zeitwahrnehmung verknüpft ist. Jüngste Forschungsergebnisse deuten zudem darauf hin, dass Werkzeuggebrauch nicht nur die räumliche, sondern auch die zeitliche Wahrnehmung beeinflusst. So wird Zeit im Nah- und Fernraum unterschiedlich wahrgenommen – ein Unterschied, der sich durch gezieltes Training mit Werkzeugen aufheben lässt. Diese Verbindung von Raum- und Zeitwahrnehmung unterstreicht, wie eng kognitive Prozesse und physische Interaktion mit der Umwelt zusammenhängen.
Unsere Zeitwahrnehmung – zentral für unser Selbst- und Umweltbewusstsein – ist dabei höchst subjektiv und wird durch Bewegung beeinflusst, sei es durch eigene Bewegungen oder durch äußere Reize. Philosoph:innen und Wissenschaftler:innen haben schon lange auf die enge Verknüpfung von zeitlicher und räumlicher Information im Alltag hingewiesen. Klassische Labormethoden, die versuchen, diese Dimensionen voneinander zu trennen, greifen womöglich zu kurz – denn räumliche, zeitliche und andere Größen teilen sich vermutlich eine gemeinsame neuronale Repräsentation.
Studien zeigen, dass unsere Zeitwahrnehmung flexibel und vom Ort eines Reizes im Raum abhängig ist. Unser Umfeld gliedert sich dabei in einen Nahraum (in Reichweite) und einen Fernraum (außer Reichweite). Durch Werkzeuge kann der Nahraum in den Fernraum erweitert werden – was unsere Distanzwahrnehmung nachhaltig verändert. Diese Umstrukturierung erfolgt schnell, hängt in Dauer und Ausmaß aber stark davon ab, wie häufig und wie lange Werkzeuge eingesetzt werden. Wenn die Zeitwahrnehmung also eng mit der Raumverarbeitung verknüpft ist, bedeutet das: Auch unsere Erfahrung von Zeit wird durch Werkzeuggebrauch beeinflusst.
Die Arbeit von Dr. Jahanian-Najafabadi wurde bereits in verschiedenen Publikationen vorgestellt, unter anderem zu der Frage, wie ältere Menschen neue Werkzeuge und Technologien erlernen. Damit trägt er maßgeblich zum Verständnis von kognitivem Altern und Neuroplastizität bei.