Eine beunruhigende Entwicklung oder Grund zur Hoffnung? Der Vielfaltsbarometer 2025 liefert nüchterne Erkenntnisse
Lange Zeit hat sich Deutschland damit gerühmt, ein Ort der Vielfalt, Fairness und Toleranz zu sein. Als bevölkerungsreichstes Land der EU ist es zugleich Heimat der meisten im Ausland geborenen Staatsangehörigen – über 12 Millionen laut EU – sowie von sieben Prozent der weltweiten Geflüchteten, also rund zwei Millionen laut dem World Migration Report 2024 der International Organization of Migration. Vor diesem Hintergrund hat sich das Vielfaltsbarometer 2025 zum Ziel gesetzt, messbar zu machen, wie vielfältig Deutschland tatsächlich ist und wie tolerant und akzeptierend das Land ist.
In Auftrag gegeben von der Robert Bosch Stiftung, erschien das Vielfaltsbarometer erstmals 2019 und ist bis heute die einzige große, repräsentative Studie zur Akzeptanz von Vielfalt in Deutschland. Sowohl 2019 als auch 2025 wurde die Studie von einem Team aus Psycholog*innen und Sozialwissenschaftler*innen der Constructor University durchgeführt. Zur Arbeitsgruppe 2025 gehören Regina Arant, Georgi Dragolov und Klaus Boehnke von der Constructor University, sowie Ferdinand Mirbach von der Robert Bosch Stiftung. Wir haben mit Dr. Boehnke über seine Einschätzung, die zentralen Ergebnisse, die zugrunde liegenden Trends und mögliche künftige Entwicklungen gesprochen.
Professor Boehnke, im Vergleich zum Vielfaltsbarometer 2019 ist die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz von Vielfalt von 68 auf 63 Punkte (Skala 0–100) gesunken. Wie lässt sich diese Entwicklung international einordnen? Sehen wir ähnliche Rückgänge auch in anderen europäischen Ländern oder darüber hinaus?
Die Vielfaltsbarometer-Studien (2019 und 2025) wurden bisher nur in Deutschland durchgeführt. Deshalb ist es schwierig zu sagen, ob ein ähnlicher Trend auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten ist. Die wachsenden Anteile von Wähler*innen, die rechtspopulistische Parteien unterstützen, können allerdings durchaus, als Zeichen dafür gesehen werden.
Bis 2025 ist die Akzeptanz in vielen westdeutschen Bundesländern besonders gesunken, sodass sich der Abstand zwischen Ost und West verringert hat. Bedeutet dies, dass die westlichen Bundesländer ihre maximale Akzeptanz bereits erreicht haben?
Es scheint sich eher um einen Spillover-Effekt zu handeln. Dass Medien – traditionelle wie soziale – Ressentiments gegenüber religiösen Ausdrucksformen, insbesondere gegenüber dem Islam, befeuern, zeigt inzwischen Wirkung.
REGIONALE DYNAMIKEN UND EIN URBANES PARADOX
Die westdeutschen Bundesländer, die einst offener waren, haben im Vergleich zu den östlichen Bundesländern an Boden verloren. Dadurch hat sich die Kluft zwischen Ost und West in Bezug auf die Akzeptanz von Vielfalt verringert. Was sagt uns das über den Wandel regionaler Identitäten und darüber, wie Deutschland in die globalen Muster der Trennung zwischen Stadt und Land bzw. Zentrum und Peripherie passt?
Obwohl weitere Forschung nötig ist, zeigt sich bereits jetzt: Urbane Zentren sind religiöser „Andersartigkeit“ gegenüber aufgeschlossener, auch wenn sie selbst keine religiösen Zentren sind. Bremen etwa gehört zu den Vorreitern bei der Akzeptanz religiöser Vielfalt, obwohl die Bevölkerung dort selbst nur gering religiös ist.
Berlin, Hamburg und Bremen, die oft als kosmopolitische Zentren betrachtet werden, verzeichnen einige der stärksten Rückgänge. Wie erklären Sie sich das? Sehen Sie Parallelen zu anderen internationalen Städten, die mit Gegenreaktionen auf Vielfalt konfrontiert sind?
Die drei Stadtstaaten haben einen Rückgang um acht Punkte erlebt, während der Durchschnitt in Deutschland bei fünf Punkten lag. Dies scheint damit zusammenzuhängen, wie Neuankömmlinge in Deutschland verteilt werden. Sobald es ihnen möglich ist, ziehen sie dorthin, wo bereits Mitglieder ihrer ethnischen Gruppe leben – meist in die Großstädte. Dadurch ist ihre Präsenz dort am sichtbarsten. In der Folge sank die Akzeptanz gegenüber ethnischer Vielfalt um 17 Punkte.
SPITZENREITER UND SCHLUSSLICHTER
Während Nordrhein-Westfalen zu den Spitzenreitern gehört, liegen Thüringen und Sachsen am unteren Ende. Wie sind diese Unterschiede im Vergleich zu anderen Länderverhältnissen – etwa Nord vs. Süd in den USA oder Stadt vs. Provinz in Frankreich – einzuordnen?
Hier kann man vermuten, dass die klassische Kontakthypothese eine Rolle spielt. Nordrhein-Westfalen war seit Jahrhunderten ein Schmelztiegel der Arbeitsmigration. Dort wurden Neuankömmlinge dringend benötigt, um die Rohstoffvorkommen – lange Zeit vor allem Kohle – abzubauen. Wie sich das im internationalen Vergleich darstellt, ist schwer zu sagen. Tiefe, persistente Spaltungen innerhalb von Staaten führen jedoch nicht selten zu Kriegen, wie der aktuelle Fall der Ukraine zeigt. Dort war einer der Auslöser für den Angriff Russlands, dass internationale Grenzen nicht mit Sprachgrenzen übereinstimmten: Russland hat die russischsprachigen Regionen der Ukraine völkerrechtswidrig besetzt.
BEUNRUHIGENDE TENDENZ UND EIN GRUND ZUR HOFFNUNG?
Die Studie unterscheidet zwischen Befürworter*innen und Skeptiker*innen von Vielfalt und zeigt deutliche politische Zusammenhänge, beispielsweise Verbindungen zur AfD. Inwiefern spiegelt oder unterscheidet sich diese Polarisierung von Entwicklungen in anderen Demokratien?
Der Kernpunkt ist, dass die Auffassung, Vielfalt sei ein Gewinn für eine Gemeinschaft, ein Bundesland oder ein Land, in Deutschland nicht mehr von der Mehrheit vertreten wird. Stattdessen ist sie zur Position einer Minderheit der deutschen Öffentlichkeit geworden, obwohl wiederholt gezeigt wurde, dass Vielfalt ein Baustein für Innovation ist. Wir müssen uns nur die Küche ansehen. Der Zustrom ausländischer Arbeitskräfte nach Westdeutschland seit den 1960er Jahren hat viele neue Geschmacksrichtungen in die deutsche Küche gebracht. Diese war zuvor von Kartoffeln und Kohl dominiert und wurde bestenfalls mit Salz und Pfeffer gewürzt.
Die Akzeptanz von Geschlechter- und Altersvielfalt hat sich hingegen verbessert. Warum sind diese Kategorien stabiler, und zeigt sich dieser Trend auch global?/strong>
Das müssen wir abwarten. Es gibt aber zumindest Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen weltweit sowie die Frauenbewegung haben zu einem unumkehrbaren Trend in Richtung Gleichstellung der Geschlechter geführt. Ähnlich ist es bei Altersvielfalt: Immer größere Teile der älteren Bevölkerung bleiben im Berufsleben aktiv – zumindest in der Wissens- und Dienstleistungsökonomie.
SOZIO-ÖKONOMISCHE FAKTOREN UND EIN BLICK NACH VORN
Die Akzeptanz gegenüber Menschen mit einem schwächeren sozioökonomischen Status ist nach wie vor gering. Handelt es sich dabei um ein speziell deutsches Problem oder spiegelt es ein internationales Muster wider, dem zufolge Ungleichheit die Offenheit gegenüber anderen prägt?
Psycholog*innen sprechen in diesem Zusammenhang vom Just-World-Fallacy-Bias. Dieser Denkfehler beruht auf der Vorstellung, dass jeder das bekommt, was er verdient. Auf Armut bezogen bedeutet das: Arme gelten als inkompetent, als Menschen, die schlicht nicht gut genug sind in dem, was von ihnen erwartet wird. Daraus entsteht die Überzeugung, dass Armut ausschließlich selbstverschuldet ist.
Der Bericht fordert Dialog, Bildung und eine sorgfältige öffentliche Rhetorik. Mit Blick über Deutschland hinaus: Welche internationalen Ansätze zur Stärkung von Akzeptanz und zur Verringerung von Polarisierung erscheinen Ihnen vielversprechend?
Eine umfassende Antwort würde mindestens eine Stunde dauern. Herausgreifen möchte ich nur einen Punkt: Bildung für alle ist ein zentraler Schlüssel. Die OECD-Studie PISA hat eindeutig gezeigt, dass ein nicht selektives Schulsystem, wie es etwa in Finnland existiert, zu einer besseren Bildung für alle führt. Investitionen in Bildung sind der beste Schutz vor gesellschaftlichen Spaltungen. Nicht die Polarisierung an sich ist das Übel – unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft darf es geben –, sondern die soziale Ungleichheit.